„Mami, darf ich raus, spielen?“ – „Ja, aber nur wenn Deine Hausaufgaben gemacht sind!“ Viele Versorger zieht es raus aus dem eigenen Grundversorgungsgebiet. Denn dort wird es irgendwie eng: Kunden kündigen und lassen sich nicht so schnell zurückgewinnen. Margen lassen sich nicht mehr so einfach erhöhen. Häufig werde ich dann gefragt: „Herr Stiller, macht es Sinn, wenn wir raus gehen?“ Meine Antwort können Sie sich denken.
Die Gründe für diese Antwort sind stark mit der Motivation verbunden, die den Versorger vor diese Frage stellt. Häufig stehen Kundenverluste im Stammgebiet im Mittelpunkt der Idee. Die leicht nachvollziehbare Überlegung: Es ist viel leichter neue Kunden zu gewinnen, als die aufgrund einer – wie auch immer gearteten – Unzufriedenheit verlorenen Kunden zurückzugewinnen. Hinzu kommt, dass von Unternehmen nicht mehr nur noch Gewinn, sondern Gewinnwachstum erwartet wird (auch von den Kommunen). Bis vor kurzem war dies noch relativ einfach über eine Preisanpassung realisierbar. Doch im Rahmen der zunehmenden Wechselfreude der Kunden müssen den Gewinnen aus einer solchen Anpassung den Verlusten aus Kündigungen gegenübergestellt werden. Auch aus meiner Sicht gute Gründe, das Vertriebsgebiet auszuweiten, um neue Kunden hinzu zu gewinnen. Die Frage ist da eigentlich nur noch: Wie?
Externe Callcenter oder Internet-Portale versprechen schnelle Erfolge. Gekaufte Adressen werden in den Zielgebieten abtelefoniert und über Werbemaßnahmen wird Traffic auf den Internet-Portalen erzeugt. Die Conversions sind dann nur noch eine Frage der Provision und des Preises. Dabei liegen die Provisionen häufig so, dass sich diese nach 2-3 Jahren amortisiert haben. Auch die günstigeren Preise sind in der Regel kein Problem, wenn man diese neuen Kunden kalkulatorisch vom Bestand trennt. So lassen sich häufig gezielter und günstiger die Mengen beschaffen und auch Leerstände und Zahlungsausfälle aus der Grund- bzw. Ersatzversorgung wiegen nicht so schwer. Also ein Geschäft ohne Risiko?
Nein. Denn der neu hinzugewonnene Kundenstamm muss genau analysiert und beobachtet werden. Allein die Vertriebslogik gibt Grund zur Sorge: Im Fall des Callcenters werden viele Kunden überhaupt erst auf die Möglichkeit zu wechseln gebracht. Der neue Vertrag wird selbst bei allen Qualitätsversprechen, die Ihnen Ihr externer Vertrieb gibt, per Hard-Selling beim Kunden „reingedrückt“ (Aussagen wie „wir wurden von der Bundesregierung beauftragt, Ihren Stromtarif zu überprüfen“ sind dabei noch eher harmlos). Bei einem Abschluss wechseln die Kunden somit zum „Erst-Besten“. Das einfachste Argument, dass dieser Vertriebskanal nutzen wird, ist der Preis. Denn dieser Kanal ist auf eine hohe Effizienz beim Telefonieren angewiesen. Er kann und will sich nicht lange mit Nutzenargumentationen aufhalten. Falls doch, wird er eine höhere Provision verlangen. Zusätzlich droht die Gefahr, dass der Vertriebspartner die Kunden im nächsten Jahre für einen anderen Anbieter erneut anrufen wird. Auch über Internet-Portale werden Sie hohe Abschlussquoten nur über den Preis erzielen. Wenn aber der Preis das wichtigste Argument für den Wechsel des Kunden ist, so birgt das immer die Gefahr, dass ein anderer Anbieter im nächsten Jahr ein noch günstigeres Angebot macht. Sie würden den Kunden verlieren, bevor er sich amortisiert hat.
Sie müssen dem Kunden also gute, ins Bewusstsein des Kunden vordringende Argumente geben, damit dieser eine bewusste Entscheidung für Sie trifft und möglichst lange bei Ihnen verweilt. Das erfordert einen langen Atem und eine ausgearbeitet Marketing- und Vertriebsstrategie. In dieser muss auch enthalten sein, wie der Kundenwert über die Zeit erhöht werden kann. Also all die Elemente, die auch dafür sorgen würden, dass Sie ebenfalls im Grundversorgungsgebiet noch wachsen würden. Und so hat Mami – wie so oft – in einer scheinbar banalen Situation eine echte Lebensweisheit mit auf den Weg gegeben. Und auf die Frage „Macht es Sinn, wenn wir raus gehen?“ antworte ich daher mit ihren Worten: „Ja, aber nur wenn die Hausaufgaben gemacht sind!“